Die klassische Archäologie
In der klassischen Archäologie werden die materiellen Hinterlassenschaften der Menschheit aus vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden mit natur- und geisteswissenschaftlichen Methoden erforscht. Es handelt sich um eine tief in die Vergangenheit orientierte Wissenschaft.
Zeitgeschichtliche Archäologie, also die Auswertung materieller Hinterlassenschaften aus der jüngsten Vergangenheit, ist darum fachintern sehr umstritten. Und das scheinbar aus gutem Grund: Welche Aussagekraft hat etwa ein gerade einmal 20 Jahre alter, massenhaft industriell hergestellter Flaschenöffner?
Die Neo-Archäologie
Meine Erinnerungsforschung hingegen bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Archäologie und Objektkunst. Mit der von mir entwickelten Methode der Neo-Archäologie erkunde ich die materiellen Spuren vergangener Alltagswelten in sogenannten „Lost Places“, wie vor wenigen Jahren aufgegebenen Wohnhäusern, Schuppen, Bauernhöfen, Werkstätten oder Gasthäusern – in Orten, die nicht als historische Monumente gelten, sondern als stille Zeugen erloschener individueller Lebensrealitäten verfallen oder in Vergessenheit geraten.
Dabei interessieren ich mich für die banalen Überreste des Gewöhnlichen: Geschirr, Werkzeug, Möbelfragmente, Kleidungsstücke, Fotografien oder Dokumente – Dinge, die aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und aus dem Kreislauf des Gebrauchs gefallen sind. Denn diese Objekte offenbaren nicht nur die Vergangenheit ihrer einstigen Besitzer, sondern verweisen auf gesellschaftliche Prozesse des Erinnerns und Vergessens.
Meine Arbeit als Neo-Archäologe vollzieht sich in zwei Phasen. Zuerst lege ich in einer archäologisch-wissenschaftlich inspirierten Vorgehensweise einen Untersuchungsbereich fest, durchstreife den Ort systematisch und dokumentiere die Fundsituation fotografisch. Sodann berge ich die Objekte, reinige sie sorgfältig und arrangiere sie in einem künstlerischen Prozess neu, entweder als Materialbilder oder als raumgreifende Installationen.
In diesen Assemblagen interpretiere ich das ursprüngliche Narrative der Dinge nach ästhetischen Gesichtspunkten neu: Bruchstücke, Risse, Verwitterungsspuren und Materialalterung werden nicht kaschiert, sondern bewusst in die künstlerische Gestaltung integriert. Mich interessiert die verborgene Geschichte ihrer ehemaligen Besitzer, die sich in den Gebrauchsspuren eingeschrieben hat.
Im Unterschied zur klassischen Recyclingkunst liegt mein Fokus jedoch nicht auf dem reinen Materialwert oder der Neukombination disparater Elemente, sondern auf der Kontextualität der Fundstücke.So entstehen Schaustücke von überaus kraftvoller, manchmal poetischer, manchmal surrealer Intensität.
Wo es nicht möglich ist, die Fundstücke zu festen Arrangements zu fixieren, erfasse ich sie nur fotografisch und gebe sie dann wieder an ihren Fundort zurück – eine Praxis, die sich an der Land-Art orientiert und die Vergänglichkeit als integralen Bestandteil auch meiner eigenen Arbeit begreift.
In einer Zeit zunehmender achtloser Wegwerfkultur und eines entfesselten Konsums möchte ich mit meiner Objektkunst einen Kontrapunkt setzen: Sie feiert die Ästhetik des Verfalls und macht sichtbar, was oft unbeachtet bleibt. Sie verleiht den weggeworfenen und vergessenen Dingen eine neue Würde – nicht durch Konservierung, sondern durch die Transformation in künstlerische Erinnerungsräume und den Hinweis auf die „kleinen“ Menschheitsgeschichten.
Matthias Weigold
Ort: Unterrettenbach / Gemeinde Kröning / Niederbayern
Durch einen Artikel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG bin ich auf das Phänomen der vielen
leerstehenden und verfallenden Bauernhöfe in Niederbayern aufmerksam geworden. Bei einem der erwähnten Bauernhöfe habe ich eine exemplarische Begehung, Sichtung und Dokumentation
durchgeführt. Alle Gegenstände habe ich bei
dieser Begehung im Original-Arrangement belassen.